Manche Bücher brauchen keine 1000 Seiten, um wichtig und machtvoll zu sein. Astrid Lindgrens Rede anlässlich der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1978 “Niemals Gewalt!” braucht nur wenige Worte. Diesen Monat ist ihre Rede endlich wieder in gedruckter Form im Verlag Friedrich Oetinger erschienen. Ein unscheinbares kleines Büchlein für nur 5 €. Umso furiuoser ist sein Inhalt. Mich hat er tief bewegt und zum Nachdenken angeregt – eine absolute Leseempfehlung!
Astrid Lindgren hat wie kaum eine andere Autorin die Kinderliteraturlandschaft geprägt. In ihrem Heimatland Schweden war sie jedoch noch viel angesehener, ihre Worte hatten Gewicht. Nicht nur einmal hat sie ihre politische Meinung in den Medien kundgetan und sich besonders nach ihrer Geheimdienstarbeit während des zweiten Weltkriegs, für eine friedliche Welt eingesetzt. 1978 war der zweite Weltkrieg erst knapp 30 Jahre vorbei, viele Erwachsene hatten die Schrecken des Krieges noch vor Augen, Angehörige oder Freunde verloren. Als Astrid Lindgren den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, sollte sie besonders für ihre Verdienste um die Phantasie junger Menschen geehrt werden. Die Organisatoren erwarteten eine Rede, die sich um Bullerbü und Lönneberga, um Lausbuben und vorlaute Mädchen dreht. Stattdessen sprach Astrid Lindgren über Gewalt. Über Gewalt an Kindern und ihre komplette Ablehnung dieser bis dato gängigen Praxis der Erziehung. Sie brachte das Publikum der Paulskirche in Verlegenheit: Immerhin galt 1978 noch das elterliche Recht auf körperliche Züchtigung in Deutschland. Kinder zu schlagen war im Deutschland der 70er Jahre leider normal.
Astrid Lindgren brauchte nicht viele Worte, sie bringt die Themen auf den Punkt, redet nicht drumherum. Am Anfang ihrer Rede fragte sie sich, wie wir Frieden auf dieser Welt erreichen können (immerhin hat sie gerade einen Friedenspreis verliehen bekommen). Wie sollen Menschen, die mit Gewalt aufwachsen, eine friedliche Welt lenken und gestalten? Wie können wir den kriegerischen roten Faden der Menschheitsgeschichte durchbrechen? Ihr Ansatz: Wir müssen bei den Kindern anfangen. Kinder sind die Meinungsmacher und Weltherrscher von morgen. Sie werden unsere Welt in gar nicht allzu langer Zeit übernehmen, deshalb müssen wir sie mit möglichst viel Liebe zu gütigen Erwachsenen erziehen. Kein Kind kommt gut oder böse auf die Welt. Kinder sind unschuldig und lernen durch soziale Prägung.
“Wer die Rute schont, verdirbt den Knecht.” (Altes Testament)
Gewalt an Kindern gehörte im Jahr 1978 noch zum Alltag. Nur körperliche Züchtigung vermochte Kinder zu formen und zu ehrbaren und gehorsamen Erwachsenen zu erziehen – so die landläufige Meinung. Diese Einstellung kritisiert Astrid Lindgren aufs Schärfste. Ihr sind die Argumente der Gegenseite geläufig: “Wir erziehen unsere Kinder zu Weicheiern! – Was soll aus einem Kind werden, das keine Grenzen kennt? – Da können wir den Kindern ja gleich die Politik überlassen!” Doch ihr geht es nicht um Zügellosigkeit, Kinder brauchen Grenzen. Sie brauchen ein Wertesystem, an dem sie sich orientieren können. Nur bedarf es dazu keiner physischen oder psychischen Gewalt. Und ich stimme Astrid Lindgren vollkommen zu.
Zum Verständnis ihrer Argumentation, erzählte Astrid Lindgren die Geschichte einer Mutter und ihres Sohnes. Der Sohn hatte etwas getan, wofür man in früheren Zeiten eine Tracht Prügel als Strafe vorsah. Nun schickte sie ihn raus, um selbst nach einer geeigneten Rute zu suchen, mit der sie die Züchtigung vornehmen wollte. Ihr Sohn blieb lange weg und kam letztendlich weinend mit einem Stein zurück: “Ich habe keinen Stock finden können, aber hier hast du einen Stein, den kannst du ja nach mir werfen.” Dies erschütterte die Mutter bis ins Innerste. Ihr Sohn musste wirklich gedacht haben, dass seine Mutter ihm starke Schmerzen hatte zufügen wollen – das geringe Ausmaß der Züchtigung konnte er gar nicht einschätzen. Da begann auch sie zu weinen und verstand, dass ihr Sohne niemals durch eine Tracht Prügel zur Einsicht seines Fehlers gebracht worden wäre. Deshalb legte sie den Stein auf ein Bord in der Küche. Als Mahnung.
“Vielleicht wäre es gut, wenn wir alle einen kleinen Stein auf das Küchenbord legten als Mahnung für uns und für die Kinder: Niemals Gewalt!”
Für mich persönlich ist Astrid Lindgren eine große Intellektuelle, ein literarisches und feministisches Vorbild. Ich möchte, dass jeder Mensch diese wenigen Seiten liest und sich fragt, wann er das letzte Mal gewalttätig war. Schläge verletzen und auch Worte können Schläge sein. Erzieht eure Kinder zu Toleranz und Friedlichkeit, zu Warmherzigkeit und zum Nachdenken. Gewalt schadet allen.
“Niemals Gewalt!”
von Astrid Lindgren
mit einem Vorwort von Dunja Hayali
Verlagsgruppe Oetinger 2017
ISBN 978-3-7891-0789-4
Das Headerbild wird unter der Genehmigung der Verlagsgruppe Oetinger verwendet. © Verlagsgruppe Oetinger / 2017
Gewinnspiel
Tausend Dank an die Verlagsgruppe Oetinger, die mir das Büchlein als Rezensionsexemplar zugeschickt und gleich noch ein zweites dazugepackt haben. Dieses möchte ich einer/einem von euch gerne schenken. Wer “Niemals Gewalt!” unbedingt lesen möchte, darf das also gerne in den Kommentaren kundtun. Jeder Kommentar, der bis zum 05. April um 18 Uhr unter diesem Beitrag eingeht, nimmt an der Verlosung teil. Viel Erfolg!
Laura
Ja, das war eine wichtige Rede. Die Psychologin Alice Miller hat etwa zur gleichen Zeit mit ihren Büchern das Thema Gewalt gegen Kinder psychologisch detailliert aufgerollt. Jetzt entsteht anscheinend in Österreich ein Alice Miller Friedenszentrum ( http://www.alice-miller.org ).
Liebe Grüße Heike