Gastbeitrag: Italienische Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland I

Laura weilt mit ihrer Familie ja gerade in Italien und hatte im Vorfeld nach Tipps für italienische Kinder- und Jugendbücher gefragt. Da ich seit zwanzig Jahren vor allem KJBs aus dem Italienischen übersetze, habe ich mich mal gemeldet – und so entstand die Idee zu einem Gastbeitrag hier auf Lütte Lotte. Dies ist der erste von drei Beiträgen zur italienischen Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland. Den Anfang machen “Die Klassiker” und “Die Vergessenen”.

Für einen detaillierten Überblick über die italienischen KJB, die es in Übersetzung nach Deutschland geschafft hat, reichen jedoch selbst zwanzig Jahre Übersetzertätigkeit nicht aus (von dem Platz hier mal ganz abgesehen!). Aber ich werde versuchen, euch ein paar Klassiker, Highlights und italienische Besonderheiten näherzubringen. Dabei habe ich nicht alle der hier aufgeführten Titel gelesen, doch die Tendenzen lassen sich dennoch erkennen.

Ich bin übrigens Ulrike Schimming, arbeite als Übersetzerin aus dem Italienischen und Englischen sowie als freie Lektorin. Seit 2011 betreibe ich das E-Literaturmagazin letteraturen, wo im Schnitt jede Woche ein neues Kinder- oder Jugendbuch, Comic oder Graphic Novel vorgestellt wird. Ende 2017 habe ich meinen ersten eigenen Roman – “Glaube Liebe Stigmata” – als Selfpublisherin bei epubli.de herausgebracht. Es handelt sich dabei um die fiktionalisierte Biografie des italienischen Nationalheiligen Padre Pio von Pietrelcina und seiner Geliebten Mary Pyle.

Die Klassiker

Laura berichtete neulich schon über Carlo Collodis „Pinocchio“, der italienische Klassiker schlechthin, den hierzulande vermutlich viele mit italienischer Kinderliteratur verbinden. Die Geschichte von dem hölzernen Knaben, die zwischen 1881 und 1882 entstand, taucht laut den Einträgen der Deutschen Nationalbibliothek 1905 zum ersten Mal in deutscher Übersetzung auf, unter dem Titel „Hippeltitsch’s Abenteuer. Geschichte eines Holzbuben.“ Übersetzer war Paul Artur Eugen Andrae, ein Name, der mir zwar nichts sagt, den ich aber trotzdem nenne. Denn als Übersetzerin habe ich es mir angewöhnt, die anderen Übersetzer_innen immer zu nennen. Sie sind schließlich die Urheber der deutschen Texte (hier setze ich „Ü“ dann immer für „Übersetzer_in“; steht kein Ü hinter dem Titel, habe ich den Text übersetzt … 😉 ). 1913 folgte die erste „Neuübersetzung“ für Herder: „Die Geschichte vom hölzernen Bengele lustig und lehrreich für kleine und große Kinder, deutsch bearbeitet von Anton Grumann“.

1913 wurde Pinocchio in Wien zu „Hölzele, der Hampelmann, der schlimmer ist und nicht folgen kann. Eine viellehrreiche Böse-Buben-Geschichte, übertragen von Franz Latterer“. Vermutlich 1929 spoilerte der Titel „Kasperles Abenteuer: Die Geschichte eines Holzbuben, der schließlich ein wirklicher Knabe wird“ (Ü: Heinrich Siemer) bereits das Ende. 1938 heißt es dann nur noch „Klötzlis lustige Abenteuer“ (Ü: Josef Kraft). Erst 1947 taucht der Name Pinocchio zum ersten Mal im Titel auf: „Pinocchio, das hölzerne Bengele“, eine Neuauflage der Übersetzung von Anton Grumann. 1948 versucht Ueberreuter in Wien es noch einmal mit „Purzel, der Hampelmann“ (Ü: Alois Pischinger), danach wechseln die Titel beständig zwischen „hölzernem Bengele“, „Kasperle“, „Hampelchen“, „Purzel“ und „Pinocchio“. Der „hölzerne Bengele“ hält sich noch bis in die 70er Jahre, dann taucht in einer freien Nacherzählung von Otto Julius Bierbaum auf einmal „Zäpfel Kern“ als Name auf. Doch der setzt sich nicht durch. Viel mehr scheint mir, dass die zweite Synchronisation des Disney Zeichentrickfilms „Pinocchio“, die 1973 in die Kinos kam (der Film stammt ursprünglich von 1940), maßgebend wurde.

Nun endlich hieß der arme namenstechnisch gebeutelte Pinocchio auch in Deutschland nur noch Pinocchio

Entschuldigt, diesen langen Auftakt, doch er zeigt, dass hier ein Buch über annähernd 115 Jahre in den Kinderzimmern zu finden gewesen ist – und immer noch zu finden ist. Denn seit Ende des zweiten Weltkrieges ist jedes Jahr mindestens eine Neuauflage oder Neuübersetzung erschienen. NordSüd und Coppenrath haben gerade erst Neuauflagen für dieses Jahr angekündigt. Pinocchio ist also dauerpräsent. Von deutschen Kinderbüchern sind es die Werke von Erich Kästner, die zwar noch keine 100 Jahre alt sind, aber aus den Kinderzimmern nicht mehr wegzudenken sind.

Ein weiterer Klassiker, auch in Italien, ist der Roman „Cuore“ („Herz“) von Edmondo de Amicis (1846-1908) aus dem Jahr 1886. Die DNB verzeichnet „Herz. Ein Buch für die Jugend“ in der Übersetzung von Raimund Wülser 1918 bereits mit einer Auflage von 57-58. Tausend in der Basler Buch- und Antiquariatshandlung. Enorm für die damalige Zeit, wenn man bedenkt, dass heute Kinderbücher oftmals nur mit einer Auflage von 3000 Exemplaren erscheinen. Wann genau es zum ersten Mal ins Deutsche übertragen wurde, lässt sich dort nicht nachvollziehen.

Aus dem Band ist vor allem die Geschichte „Von den Apenninen zu den Anden“ bekannt, auch unter dem Titel „Marco sucht seine Mutter“ (1936). Aus diesem Auszug wurde in den 70er Jahren eine 52-teilige japanische Anime-Serie gemacht, die in Deutschland unter dem Namen „Marco“ lief. 1981 wurde sogar der vollständige Roman als 26-teiliger Anime „Ai no Gakkō: Cuore Monogatari“ umgesetzt. Zudem diente das Buch als Vorlage der 1990 entstandenen Weihnachtsserie „Marco – Über Meere und Berge“. Zu diesen filmischen Umsetzungen kann ich leider nichts sagen – wäre aber eine gute Gelegenheit, dem mal nachzugehen.

Der Roman ist als Tagebuch angelegt, in dem der Junge Enrico Bottini von Erlebnissen und Mitschülern seiner Klasse, einer dritten Grundschulklasse, erzählt. Die Episoden berichten von den verschiedenen Teilen Italiens, das erst wenige Jahre zuvor zu einem Staat vereint worden war, und haben einen patriotischen Anstrich. 1986 hat Hans-Ludwig Freese „Cuore“ neu übersetzt von und als gekürzte Version neu aufgelegt. Die letzte Auflage dieser Übersetzung ist von 1996, der Illustrationen der italienischen Prachtausgabe von 1892 beigefügt sind. „Cuore“ hat noch zwei, drei weitere Übersetzungen erlebt, was jedoch nicht mit der beständigen Überarbeitung von „Pinocchio“ vergleichbar ist.

Hier lässt sich eine erste Vermutung, warum relativ wenige italienische Kinder- und Jugendbücher in Deutschland veröffentlicht werden, anbringen:

Die extrem auf Italien zugeschnittenen Geschichten, die italienische Lebenswelten und italienische Heimatliebe spiegeln, bieten deutschen Leser_innen oftmals viel zu wenig Identifikationspotential. Ihnen fehlt somit die Allgemeingültigkeit, die Pinocchio für sich verbuchen kann.

Abenteuer hingegen sind universell

So sind auch die Romane von Emilio Salgari (1862-1911) – „Sandokan“ (1907), „Pharaonentöchter“ (1906), „Der algerische Panther“ (1903), „Der schwarze Korsar“ (1898) (alle Ü: Martha von Siegroth, 1929), „Die Tiger von Mompracem“ (1900) (Ü: Karl-Heinz Hellwig, 1930) – heute immer mal wieder zu haben. 2009 hatte der Schweizer Unionsverlag einige Neuübersetzungen herausgebracht („Sandokan“, Ü: Jutta Wurm). Aktuell hat der Selfpublisher-Dienstleister Tredition vier lieferbare Titel, jedoch sind es alte Übersetzungen. Vielleicht kennt die eine oder andere von euch die Geschichten noch als Hörspielkassetten oder –platten. Die ersten Übersetzungen von Salgaris Büchern lagen bereits 1913 vor: „Die Robbenjäger der Baffin-Bai“ und „Die Schiffbrüchigen von Spitzbergen“ (beide Ü: Arthur Wihlfahrt).

In Deutschland galt Salgari, der einige Jahre für verschiedene Jugendzeitschriften gearbeitet hat, als der italienische Karl May. Er hat 80 Romane geschrieben, die an den exotischsten Orten spielen, nur nicht in Italien. Dazu kamen noch unzählig Erzählungen. In den 50er und 60er Jahren entstanden zahlreiche Verfilmungen seiner Geschichten. Salgaris Werk ist folglich ein Zwitter zwischen Jugendbuch und Erwachsenenlektüre, ähnlich wie die Werke von Mark Twain oder Jules Verne, die eigentlich von allen Altersstufen gelesen werden können.

Der nächste Autor, der sowohl in Italien als auch in Deutschland zu den italienischen Klassikern gehört, ist Gianni Rodari (1920-1980). Vor allem sein Roman „Zwiebelchen“, der 1954 im ostdeutschen Kinderbuchverlag in der Übersetzung von Pan Rova herauskam, und die „Gutenachtgeschichten am Telefon“ sind hier bekannt. Dazu ein paar von seinen Gedichten, die in den 70er Jahren von James Krüss ins Deutsche gebracht wurden („Kopfblumen. 7 x 7 Gedichte für Kinder“, Kinderbuchverlag Berlin 1972). „Zwiebelchen“ war wegen seiner sozialistischen Ideale in der DDR sehr beliebt. Und ist 2009 von Kathrina Thalbach als Hörbuch eingelesen worden (die Übersetzernennung fehlt).

1964 wurden die „Favole al telefono“ zum ersten Mal von Ruth Wright übersetzt. Doch die ursprünglich 70 Geschichten waren bis 2012 in Deutschland nie komplett zu haben. In den verschiedenen Ausgaben, darunter auch eine Wagenbach-Ausgabe für Erwachsene („Das fabelhafte Telefon“, Ü: Marianne Schneider), fehlten immer einige Geschichten. 2012 durfte ich eine komplette Neuübersetzung anfertigen – und habe auch angeblich unübersetzbare Geschichten ins Deutsche gebracht. Die fantasievollen kurzen Geschichten mit ihrem kritischen Geist eignen sich gut zum Vorlesen. 1970 war Rodari mit dem Hans-Christian-Andersen-Preis für Jugendliteratur ausgezeichnet worden.

Die Vergessenen

Nun wird es mit den „großen“ Namen der italienischen KJB-Szene in Deutschland schon etwas dünner. Natürlich wurden immer mal wieder Bücher aus Italien übersetzt, doch sie haben sich nicht zu sogenannten Longsellern entwickelt. Denn wer erinnert sich an Donatella Ziliotto („Mister Master“, Ü: Marlis Ingenmey, 1972), Bianca Pitzorno („Polissena mit dem Schweinchen“, Ü: Bettina Dürr, 1995), Teresa Buongiorno („366 Geschichten zur guten Nacht“, Ü: Gabriele Fentzke/Marcus Würmli, 1991), Roberto Piumini („Matti und der Großvater“, Ü: Maria Fehringer, 1994), Silvana Gandolfi („Der Katze auf der Spur“, 1998) Angela Nanetti („Mein Großvater war ein Kirschbaum“, Ü: Rosemarie Griebel-Kuip, 2001), Beatrice Masini („Ballerina in Spitzenschuhen“, Ü: fehlt, 2004)? Vielleicht ein paar Eltern oder Großeltern, doch die Kinder sicherlich nicht. Im Handel sind sie allesamt vergriffen. In Italien jedoch gehören diese Autorinnen zum Kanon der KJB-Literatur, schreiben immer noch, z.T. auch Belletristisch für die Großen. So ist Angela Nanetti gerade für den Premio Strega 2018 nominiert (vergleichbar mit dem Deutschen Buchpreis).

2013 gab es dann mal eine kleine Sachbuchreihe von Federico Taddia mit dem Obertitel „Warum? Darum!“. Vier Bücher habe ich zu Themen wie Evolution, Astrologie, Geographie und Mathematik übersetzt. Eigentlich sollte die Reihe noch weitere Bände umfassen, aber die hat man gestrichen. Und ich vermute, dass sich kaum jemand an „Warum? Darum!“ erinnert. Sie ist auch nicht mehr erhältlich.

Weiter geht’s im nächsten Blogpost…


Dies ist der erste von drei Beiträgen zur italienischen Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland. Der zweite Teil behandelt die Kategorien “Die Aktuellen”, “Die Bilderbücher” und “Die ganz jungen Autorinnen”. Der dritte Teil dann schlussendlich “Die erwachsenen Autor_innen”, “Die Fantasy-Autor_innen” und “Die Stillen”. Viel Spaß bei der Lektüre! 🇮🇹

3 Kommentare zu „Gastbeitrag: Italienische Kinder- und Jugendliteratur in Deutschland I

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